Wie schreibt man einen Roman? - Wo findet man Ideen?

Schreiben? Ja. Aber wie?
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Ruth
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Wie schreibt man einen Roman? - Wo findet man Ideen?

Beitrag von Ruth »

Auf der Straße. Buchstäblich. 😎 Diese Geschichte wurde vor ein paar Tagen auf Imgur veröffentlicht. Ursprünglich stammt sie von Twitter. Wer sie im englischen Original lesen will, hier ist der Link: https://imgur.com/gallery/BsoMriP

Da es eine sehr lange Geschichte ist, habe ich sie mal ins Deutsche übersetzt.
Electra Rhodes hat geschrieben:Da die U-Bahn streikte, trabte ich am Freitag zu Fuß nach Paddington. Als ich an dem alten schmiedeeisernen Schild des Pizza Express vorbeikam, wurde ich an ein Ereignis von vor über 30 Jahren erinnert, als ich in ein Drama verwickelt wurde, das zu einer Scheidung, zwei Ehen und vielen veränderten Leben führte.
Es begann mit einem Herzinfarkt. Wie am Freitag schlenderte ich die Marylebone Road entlang.
Zwei Männer kommen mir entgegen, einer etwas älter als der andere, gut gekleidet, lachend, und ihre Handrücken berühren sich gelegentlich, während sie nebeneinander hergehen. Es ist 13 Uhr und ich nehme an, dass sie gerade zu Mittag gegessen haben oder auf dem Weg dorthin sind.
Der ältere Mann bleibt plötzlich mitten auf dem Bürgersteig stehen und umklammert seinen Oberarm. Dann fällt er zu Boden. Der andere Mann schreit auf, ich vielleicht auch. Ich habe gerade einen Erste-Hilfe-Kurs absolviert. Ich werfe meine Jacke auf den Boden, knie mich hin, fische den Mundschutz heraus, den wir bekommen haben, und beginne mit der Wiederbelebung.
Ich mache weiter mit dem Mann mit dem Herzinfarkt (er heißt übrigens Tom). Sein Freund Tim jammert an unserer Seite. In der Ferne glaube ich, Sirenen zu hören, aber vielleicht ist es auch nur mein eigenes Herz, das schneller schlägt, als es sein sollte. Schaulustige trösten Tim, jemand ruft tatsächlich einen Krankenwagen.
Es fühlt sich an wie 6 Jahre, aber nur 10 Minuten später stößt mich ein Sanitäter zur Seite. Gute Arbeit, sagt er.
Ich kämpfe mich auf die Beine. Tim und ich klammern uns aneinander, während wir abwarten, was auf uns zukommt. Tom wird in den Krankenwagen verladen und Gute-Arbeit-Jeff sagt uns, in welches Krankenhaus sie fahren.
Tim und ich werden am Straßenrand zurückgelassen. Die Schaulustigen zerstreuen sich, und ich frage Tim, ob er möchte, dass ich mit ins Krankenhaus komme. Lieber nicht, sagt er, man wird dort seine Frau anrufen.
Tim ist nicht der Liebhaber, für den ich ihn gehalten habe. Er ist Toms Assistent bei einer schicken Handelsbank. Oh, sage ich. Ja, antwortet er.
Wir tauschen Adressen aus. Ich, weil ich wissen will, ob Tom es schafft, und Tim, weil er mein bestes Stofftaschentuch, von dem ich vergessen hatte, dass ich es ihm gegeben hatte, vollgeschmiert hat und es gerne zurückgeben würde. Dann halten wir inne. An der Straßenecke, inmitten aller möglichen Kreuzungen.
Vielleicht solltest du es ihm sagen, sage ich. Vielleicht, antwortet Tim. Keiner von uns denkt länger darüber nach, was das genau bedeuten könnte.
Drei Wochen später kommt ein Taschentuch mit der Post. Gewaschen und gebügelt. Mit einem kleinen Zettel drin.
Es geht ihm gut. Ich habe es ihm gesagt. Wir werden sehen. Xx T.
In Ordnung, denke ich. Wir werden sehen.
Einen Monat später bekomme ich einen Brief mit der Post. Er ist von Sheila, Toms Frau, und sie ist stinksauer. Zu Recht.
Sie hat meine Adresse von Biff, der sie von Tom hat, der sie von Tim hat. Der sie, wenn ihr euch erinnert, von mir bekommen hat.
Moment, sagt ihr. Wer zum Teufel ist Biff?
Er war Trauzeuge bei Sheilas und Toms Hochzeit. Das ist lange her. Ich finde das drei Wochen später heraus, nachdem ein Schwall von Post in beide Richtungen gegangen ist.
Also ... Tim hat Tom gesagt, dass er ihn liebt. Tom hat Sheila gesagt, dass er Tim lieben könnte (Entschuldigung und so). Sheila hat sich bei jedem, der ihr zuhörte, ausgeweint.
Und jetzt hat Biff mir geschrieben. Er liebt Sheila, ob er ihr das sagen soll? Ich frage ihn, ob es einen Grund gibt, warum er es nicht tun sollte. Ich warte. Und warte.
Spulen wir ein Jahr vor. Abgesehen von der Weihnachtskarte, einem Strauß Geburtstagsblumen und einer Postkarte an meinen Vater (ich weiß auch nicht, so was tut man eben) ist es still geworden. Ich denke nicht mehr daran, außer wenn ich die Marylebone Road entlanglaufe oder mir die Nase putze.
Dann taucht eine Hochzeitseinladung auf der Matte auf. Sheila und Biff.
Die Hochzeit ist schick und ich kaufe einen neuen Hut (dunkelblauer Samt, danke der Nachfrage). Er passt zu meinen besten Schuhen. Tim und Tom übergeben Sheila am Altar an Biff und bezahlen den Champagner und die Blumen! Das ist definitiv eine willkommenere Überraschung als die letzte, die sie ihr bereitet haben. Biff sagt: Hey, der Trauzeuge hat endlich mal die Braut bekommen.
Spulen wir noch ein paar Jahre weiter, bis die gleichgeschlechtliche Ehe eingeführt wird, und dann liegt eine weitere Einladung auf meinem Kaminsims. Tim und Tom.
Es ist ein glorreicher Tag. Ich trage denselben Hut, aber ich habe neue Schuhe gekauft. Biff und Sheila finanzieren diesmal die Getränke und die Blumen. Ein schwuler Männerchor taucht auf und singt.
Weitere Jahre vergehen. Das Taschentuch wird immer zerfledderter, also hänge ich es in einem Rahmen an die Wand. Gelegentlich tauchen noch Postkarten auf. Dann tritt eine Flaute ein.
Ich denke aber immer noch an sie, wenn ich an dem schmiedeeisernen Schild vorbeigehe. Ein oder zwei Mal im Jahr. Oder wenn mich jemand nach dem Rahmen fragt.
Kurze Zeit später kommt eine schwarz umrandete Karte mit der Post. Toms Herz hat nun doch endgültig aufgehört zu schlagen.
Tim sagt: Wir haben fast 30 Jahre miteinander geschenkt bekommen, weil du in einem Erste-Hilfe-Kurs am Arbeitsplatz, zu dem dich dein Chef gezwungen hat, Wiederbelebungsmaßnahmen gelernt hast.
Danke, El, schreibt er, dass du uns allen das Leben gerettet hast.
Eine wundervolle, herzerwärmende Geschichte. Da soll noch mal jemand sagen, es gäbe keine guten Ideen mehr, die das Leben schreibt. 🙂 Also? Wer macht jetzt einen Roman daraus? 😉
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Hanna
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Re: Wie schreibt man einen Roman? - Wo findet man Ideen?

Beitrag von Hanna »

Herzerwärmend ist gar kein Ausdruck. Ich musste die Tränen zurückhalten. Gleichzeitig musste ich allerdings manchmal auch lachen. 🥲 Ich hätte große Lust, einen Roman daraus zu machen, aber ich weiß nicht, ob das so einfach ist. Das ist ja ein extrem kurzer Abriss mit vielen Lücken darin.
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Ruth
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Re: Wie schreibt man einen Roman? - Wo findet man Ideen?

Beitrag von Ruth »

Ja, das ist es. Aber wenn man auf der Suche nach einer Idee ist, kann das ein Anstoß sein. Den man ausbauen kann. Wenn ich mir das als Roman vorstelle, ist es jedenfalls keine der üblichen Geschichten, die man so liest. Die Geschichte ist außergewöhnlich.
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Sina
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Re: Wie schreibt man einen Roman? - Wo findet man Ideen?

Beitrag von Sina »

Das wäre doch der Supereinstieg in Gwen Hayes für Dich, Hanna. 😉 H1 ist Tim. H2 ist Tom. Tim ist Single. Tom ist verheiratet. Beide arbeiten bei einer Bank, lernen sich dort kennen. Der eine ist der Assistent des anderen. Es gibt schon einiges an Hintergrundinformationen.
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Hanna
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Re: Wie schreibt man einen Roman? - Wo findet man Ideen?

Beitrag von Hanna »

Anna und Lena wäre aber vielleicht besser als Tim und Tom. 😉 Du hast recht, das könnte meine Eintrittskarte in diese für mich neue Welt des Schreibens sein. Aber ein bisschen habe ich auch Angst davor. Es ist doch sehr anders, als ich das gewöhnt bin.
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Laura
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Re: Wie schreibt man einen Roman? - Wo findet man Ideen?

Beitrag von Laura »

Ich muss sagen, ich finde die Idee als Idee für einen Roman auch sehr reizvoll. Aber mir geht es wie Dir. Ich empfinde das Schreiben nach dieser Methode als sehr ungewohnt. Andererseits muss man das ja aber nicht tun. Man könnte die Geschichte auch ganz klassisch nach Ruths Virtueller-Romanwerkstatt-Methode schreiben. Aus nur einer Perspektive.
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Ruth
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Re: Wie schreibt man einen Roman? - Wo findet man Ideen?

Beitrag von Ruth »

Das kann ich nur bekräftigen. Die Idee ist erst einmal nur eine Idee. Sie ist an keinerlei Methode gebunden. Die Umsetzung bleibt jeder Autorin frei überlassen. Man könnte beispielsweise auch mit Annas oder Lenas Tod beginnen (je nachdem, wer wer ist) und alles in Rückblenden erzählen. Normalerweise rate ich ja immer von Rückblenden ab, aber in diesem Fall könnte das eine interessante Methode sein.
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AnneW
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Re: Wie schreibt man einen Roman? - Wo findet man Ideen?

Beitrag von AnneW »

Und da der Thread hier ganz allgemein Wie findet man Ideen heißt, muss es noch nicht einmal diese Idee sein. Jeden Tag, wenn man die Meldungen liest oder hört, die von überall hereinkommen, wird man mit Ideen bombardiert. Zugegeben, nicht unbedingt immer mit solchen tollen wie dieser hier 🙂, aber gerade die persönlichen Geschichten, die jetzt überall über Social Media herumschwirren, bieten da viel Potenzial.
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Angela
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Re: Wie schreibt man einen Roman? - Wo findet man Ideen?

Beitrag von Angela »

Das stimmt allerdings. Die sozialen Medien sind da eine Riesenfundgrube. Da spielen sich Dramen ab ... Man muss wirklich nicht lange nach Ideen suchen, wenn man die abgrast. Ich verfolge das nicht so intensiv, weil ich finde, das kostet zu viel Zeit, und zum Schluss kommt doch nichts dabei heraus, aber wenn ich mal etwas sehe wie auch das hier, dann denke ich, man braucht einfach nur mal über irgendwelche Twittertexte zu gehen, die die Leute einstellen, und da wird man schnell fündig, wenn man eine Idee für einen neuen Roman sucht.
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Katja
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Re: Wie schreibt man einen Roman? - Wo findet man Ideen?

Beitrag von Katja »

Erstmal: Was für eine tolle Geschichte! 👏👏👏 Auch die Art, wie die Frau das so trocken erzählt, gefällt mir sehr gut. Darüber habe ich jetzt gerade so nachgedacht. Wie wäre es, einen Roman so zu erzählen? Der Stil hier ist sicherlich Twitter geschuldet. Sie hat versucht, das so kurz und knapp wie möglich zu halten. Aber das erzeugt eine ganz eigenartige Atmosphäre, die einen sehr reinzieht.
Es würde mich sehr reizen, so zu schreiben. Es muss noch nicht einmal genau diese Idee sein (obwohl mich die durchaus auch reizen würde), aber der Stil. So trocken und knapp und doch herzerwärmend. Eine ungewöhnliche Kombination, wenn ich mir das in einem Roman vorstelle.
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Kay
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Re: Wie schreibt man einen Roman? - Wo findet man Ideen?

Beitrag von Kay »

Da kann ich Dir nur aus vollem Herzen zustimmen. Normalerweise mag ich diesen Soziale-Medien-Stil nicht (ich mag die sozialen Medien auch nicht besonders), aber hier bei dieser Geschichte verleiht dieser Stil der Geschichte eine besondere Atmosphäre. Und das wäre auch interessant für einen Roman. Man müsste mal versuchen, so zu schreiben, und sehen, was dabei herauskommt.
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Hanna
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Re: Wie schreibt man einen Roman? - Wo findet man Ideen?

Beitrag von Hanna »

Stil ist aber auch etwas, das sehr mit der eigenen Persönlichkeit zusammenhängt. Eine gewisse Methode zu lernen ist die eine Sache (und das fällt mir schon schwer), aber einen bestimmten Stil zu lernen? Sozusagen jemand anderen zu imitieren? Obwohl man es vielleicht gar nicht so empfindet wie diese/r andere? Das erscheint mir fast unmöglich. Ich könnte niemals so schreiben wie Steffi oder Sina. Ganz zu schweigen von Dir, Ruth. Deshalb denke ich, interessant mag es ja sein, aber ist es überhaupt machbar? 🤔
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Sina
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Re: Wie schreibt man einen Roman? - Wo findet man Ideen?

Beitrag von Sina »

Da wiederhole ich jetzt mal das, was Steffi zu mir gesagt hat: Wieso machst Du Dir darüber überhaupt Gedanken? 🙂 Gerade eben habe ich den Anfang Deiner Adventsgeschichte gelesen. Das ist wun-der-bar! Du hast einen Stil. Und zwar einen wunderschönen. Du brauchst keinen anderen. 😅 Und eine Idee hast Du auch schon. Hattest sie schon vor zwei Jahren. Also alle Probleme gelöst. 👌
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