Selbstverständlich kann man eine Figur haben, die immer nur nett und freundlich ist (was auch etwas über ihren Charakter aussagt), aber diese Figur wird nie Spannung erzeugen. Wenn man immer nur lieb und nett ist, weicht man der Spannung aktiv aus. Was auch ein Grund dafür ist, warum manche Leute lieber lieb und nett zu anderen sind, als ihnen die Meinung zu sagen. Sie sind konfliktscheu.
Dafür gibt es verschiedene Gründe, aber das interessiert uns hier jetzt gar nicht so, denn konfliktscheue Figuren sind keine guten Figuren. Genauso wie extrem konfliktscheue Leute in unserem Bekanntenkreis vermutlich nicht die interessantesten sind. Sie sind lieb und nett und jeder mag sie vielleicht, aber im Grund genommen nimmt niemand sie ernst. Weil sie keine Reibungsfläche bieten. Weil sie keine feste Meinung haben, sondern sich lieber der Meinung dessen anschließen, der gerade vor ihnen steht. Um Konflikte zu vermeiden.
Sobald man sich eine solche Person vorstellt, kann man sich auch vorstellen, dass das in einem Roman nichts bringen würde. Das würde ein sehr langweiliger Roman werden. Diese ständige Konfliktvermeidung offenbart auch den Charakter der Person, die das betreibt, wie gesagt, aber was würde mit einer solchen Figur in einem Roman passieren? Sie würde sich nie mit jemandem streiten, sie würde keine Entscheidungen treffen, die nicht mit den Entscheidungen anderer konform gehen, sie würde immer eher ausweichen, als ein Risiko einzugehen oder auch nur ihr Ziel konsequent zu verfolgen.
Eine Figur in einem Roman muss jedoch ein Ziel haben und es auch verfolgen. Auch gegen Widerstände. Auch wenn es mal unangenehm wird. Auch wenn sie mal Entscheidungen treffen muss, die ihr selbst oder jemand anderem wehtun oder Unbehagen bereiten. Das muss nicht heißen, dass diese Person ständig auf Konflikt aus ist, aber es heißt, dass sie Konflikten nicht ausweicht, nur um einen Konflikt zu vermeiden, der vielleicht einfach ausgetragen werden muss.
Wenn wir Konfliktsituationen schreiben, müssen wir deshalb darauf achten, dass die Figuren dadurch charakterisiert werden. Ein Konflikt um des Konflikts willen bringt uns nichts. Ein Konflikt, der zeigt, wie die Figuren sind, die diesen Konflikt miteinander austragen, bringt uns – und der Geschichte – sehr viel.
Ein bisschen ist das wie im richtigen Leben. Solange man mit anderen Menschen einer Meinung ist, lernt man sie nicht richtig kennen. Man lernt Menschen erst kennen, wenn man nicht einer Meinung ist, wenn man einen Konflikt miteinander austragen muss. Das muss kein lebensgefährlicher Konflikt sein, es kann einfach einer dieser Konflikte sein, die täglich entstehen, wenn man nicht exakt dasselbe Leben führt, wenn man nicht exakt dieselbe Person ist. Jeder Mensch ist einmalig und hat seine eigenen einzigartigen Charaktereigenschaften.
Wenn man beispielsweise im Roman eine Person als narzisstisch charakterisieren will, muss man sie nur in einen Konflikt werfen und dann beschreiben, wie sie sich verhält. Ein Konflikt wird die narzisstische Natur einer Figur sofort offenbaren. Sie wird sich egoistisch verhalten, hohe Ansprüche an andere stellen, selbst aber keine Ansprüche, die man an sie stellt, akzeptieren, wird versuchen, andere zu kontrollieren und ihnen zu suggerieren, dass sie der narzisstischen Person in jeder Beziehung unterlegen sind. Sie wird einfach aufhören, mit jemandem, der sie in Frage stellt, zu reden. Solange, bis der andere vielleicht die Geduld verliert und sagt: „Na gut, ich entschuldige mich. Ich weiß zwar nicht, was ich dir getan habe, aber bitte, sprich wieder mit mir.“
Da lacht sich der Narzisst oder die Narzisstin natürlich ins Fäustchen.

Ohne Konflikt würde sich die narzisstische Natur dieser Person vielleicht nie offenbaren, weil Narzissten oft sehr charmant und überzeugend sein können, solange sie nicht in Frage gestellt werden.
Die narzisstische Persönlichkeitsstörung ist ein sehr gutes Beispiel, aber es muss natürlich keine solche Störung sein. Es gibt sehr viele Charaktereigenschaften, die keine Persönlichkeitsstörung darstellen, aber dennoch in einem Konflikt offenbart werden können und ohne Konflikt ständig unentdeckt bleiben.
Wenn wir zwei Personen in unseren Geschichten zusammenbringen wollen, müssen wir sie zuerst in diverse Konflikte werfen, damit wir sehen können, wie sie sich in diesen Konflikten verhalten. Deshalb beginnen so viele Bücher mit einem Knalleffekt, bei dem die beiden Hauptfiguren im wahrsten Sinne des Wortes zusammenknallen. Sie haben sofort einen Konflikt, und das können wir Autorinnen dazu nutzen, gleich etwas über ihren Charakter auszusagen. Direkt auf der ersten Seite.
Das ist ein sehr gutes Stilmittel, auf das wir nicht verzichten sollten, auf das wir gar nicht verzichten können, wenn wir eine spannende Geschichte schreiben wollen. Im täglichen Leben müssen und sollten wir nicht aktiv auf der Suche nach Konflikten sein, als Autorinnen bleibt uns gar nichts anderes übrig.
